Amerika - wo das Rotkäppchen vor die Hunde ging
Jede neue Version ein Plagiat - und jedes Mal eine neue Moral
Ein Artikel von Sehpferd © 2008 by sehpferd
Ob nun Perrault oder Grimm - den Amerikanern war ziemlich egal, wer denn nun das Rotkäppchen geschrieben hatte. Sie nahmen aus beiden Geschichten auf, was ihnen gerade so in den Kram passte und veröffentlichten ihren eigenen Text. Nach 1850, als die meisten dieser Machwerke in den USA erschienen, war der Tod eines Mädchens bereits inakzeptabel - man litt immer noch daran, zu wenig Frauen zu haben. Deswegen wurde der Tod gleich mal gestrichen - zumeist auch für die Großmutter, die einfach ausgespart wurde, wenn sie die Amerikaner störte. Am Ende wurden dann klare Verhältnisse geschaffen: Meist steht am Ende ein Mann mit einer Axt, der dem Wolf den Schädel spaltet.
Um die Knackpunkte drückten sie sich also genau so herum wie die Brüder Grimm: Rotkäppchen darf nicht sterben, und in vielen Versionen muss auch die Großmutter am Leben bleiben. Die Moral wird schrittweise verändert, sodass am Ende der Kette erklärt wird, warum man Selbstjustiz, aber auch Polizei und Gefängnisse braucht.
Soweit bekannt verweist keiner der Plagiatoren auf Perrault - die Grimms taten es schließlich auch nicht. Hier werden die wichtigsten der Bücher aufgeführt, die auf den Webseiten einer amerikanischen Universität im Original abgebildet sind:
New York, 1856 - Rotkäppchens überlebt, weil eine Wespe den Wolf in die Nase sticht - dennoch muss der Bösewicht sterben: Der Pfeil eines Jägers tötet ihn.
Boston, 1863: Hier wird ein anderer Trick verwendet: Wie kann man die Großmutter am Leben lassen? Nun ganz einfach - sie ist nicht anwesend, als der Wolf kommt. Das Rotkäppchen überlebt, weil zufällig ein Jäger vorbeikommt, der den Wolf tötet, bevor er das Rotkäppchen fressen kann.
New York, 1888: Hier wird erstmals der Vater des Rotkäppchens ins Spiel gebracht, der zufällig an Großmuters Haus vorbeikommt. Er erschlägt den Wolf mit einer Axt.
New York, 1916 Rotkäppchen wird von einigen Männern gerettet, die mit Äxten gekommen sind, die Großmutter wurde gar nicht erst gefressen. Am Ende sind alle glücklich, denn "der letzte der Wölfe" wurde getötet. Hier der neue Schluss:
Nun brauchte man sich vor nichts mehr zu fürchten, denn der große graue Wolf war tot. Die Neuigkeit vom Tod des grauen Wolfs verbreitete sich schnell im gesamten Wald, und Rotkäppchen war noch nicht lange gegangen, da kamen schon ein paar Kaninchen aus ihren Verstecken heraus, schließlich auch ein Reh, und alle gingen ein Stück mit ihr. "Nun können wir uns überall im Wald frei bewegen!", riefen sie aus, "denn dies war der letzte der Wölfe".
Von diesem Tag an war der Wald auch sicher für Rotkäppchen, und sie konnte durch den Wald gehen, ihre Großmutter besuchen oder wilde Blumen pflücken. Wenn sie dies tat, kamen die Waldtiere, um mit ihr zu gehen und durch den Wald zu strolchen - voller Glück, dass das Übel, das ihnen das Leben so scher machte, nun vernichtet war.
Wir lernen daraus, dass es üble Gestalten gibt wie den Wolf, die sich durch nichts abschrecken lassen, und die wir niemals dazu bringen können, gut zu sein. Deshalb brauchen wie Polizisten und Gefängnisse." ''
Sehpferd bemerkt: Der Drang, einen neuen versöhnlichen Schluss zu schreiben, beseelt alle Plagiatoren. Meist wirkt dieser kitschig - man kommt sich vor, als wäre man längst bei Walt Disney. Amerikanische Familienmoral mischt sich mit Psychologie, doch in jedem Fall packen die Amerikaner "das Böse" hart an: Der Wolf wird vorzugsweise mit einer Axt erschlagen. Wenn der letzte der Wölfe erschlagen ist, siegt das Gute und das Böse kommt aus der Welt - Amerikaner sind eben noch viel naiver als das Rotkäppchen jemals war.
Auf in die Praxis:
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